Immer häufiger verirren sich Meeressäuger in unbekannte Gewässer. Viele dieser Tiere – seien es Wale, Walrosse, Delfine oder andere Meeressäuger – kehren nie zurück. Sie verhungern oder geraten in Konflikte mit Menschen.
Dieses zunehmende Phänomen von Tieren, die ausserhalb ihrer angestammten Lebensräume auftauchen, wird von den Wissenschaftern «Out of Habitat» genannt. Wale und Delfine schwimmen in Flüsse, arktische Walrosse verirren sich bis an die spanische Atlantikküste. Die Gründe sind weitgehend unklar. Die Folgen aber werden immer deutlicher: Ausserhalb ihres natürlichen Lebensraumes überleben die Tiere meist nicht.
Walrosse sind unter anderem in Gefahr, weil Schaulustige immer näher an die Tiere herangehen.
Im August 2022 ordnete die norwegische Fischereibehörde die Tötung des unter dem Namen Freya bekannt gewordenen Walrosses an. Die Behörden sahen sie als Bedrohung für die Sicherheit der Menschen. Statt ihre Bemühungen zu verstärken, Schaulustige von Freya fernzuhalten, beschlossen sie das Tier zu töten. Dieses Vorgehen rief breite Kritik, auch seitens OceanCare hervor.
Besonders tragisch: Für Freya hatte unser Partner BDMLR einen Rettungsponton gebaut. Genau einen Tag vor der Ankunft dieses Pontons in Norwegen wurde die kerngesunde Freya von den Behörden getötet.
Dieses Walross ist heute weltbekannt: Wally schwamm tausende Kilometer von seiner Heimat, der Arktis, Richtung Süden. Er machte Halt in Irland, Wales, England, Frankreich – und tauchte sogar in Spanien auf. Auf all seinen Stationen ist er die grosse Attraktion bei Bevölkerung und Medien. Diese Aufmerksamkeit bringt ihn und die Menschen, die sich ihm nähern, in grosse Gefahr.
Viele Boote halten dem Gewicht des massigen Tieres nicht stand. Die Behörden befürchten Unfälle – auch mit Menschen. Schnell wird Wally von einer beliebten Attraktion zu einem Problem. Forderungen werden laut, ihn zu vertreiben oder sogar zu töten. Zum Glück entscheidet sich Wally im richtigen Moment aufzubrechen, hoffentlich in Richtung Heimat.
Im August 2020 wurde im Fluss Clyde in Schottland eine Gruppe Nördlicher Entenwale gesichtet. Warum sich diese Tiere, die eigentlich in den tiefen Gewässern rund um Island leben, in einen kleinen Fluss verirren, ist rätselhaft. Die OceanCare-Partnerorganisation BDMLR konnte einige – leider nicht alle – der seltenen Schnabelwale retten und ins Meer geleiten.
Abgemagert und orientierungslos irrt dieser pazifische Wal monatelang durch das Mittelmeer. Experten vermuten, dass sich das Tier infolge des Klimawandels verirrt hat. Im Mittelmeer gibt es die spezifischen Krusten- und Weichtiere nicht, von denen sich Grauwale ernähren. Als der junge Grauwal vor der Küste Südfrankreichs gesichtet wird, ist er bereits kurz vor dem Verhungern. Eine Rückkehr in heimische Gewässer ist unwahrscheinlich.
Das Walrossweibchen Freya war ein mediales Grossereignis, ähnlich wie Wally und Thor. 2021 und 2022 besuchte sie Häfen in Dänemark, Schweden, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, den Niederlanden und in Norwegen. Als Schaulustige sich ihr auf wenige Meter nähern, lassen die norwegischen Behörden das gesunde Tier töten – trotz der Proteste von OceanCare und anderen Tierschutzorganisationen. Heute erinnert eine Bronzeskulptur in Oslo an das Schicksal der Walrossdame.
2019 sorgten sich viele Menschen um den arktischen Belugawal Benny, der sich in die Themse verirrt hatte. Wahrscheinlich war er einem Schwarm Fischen in den Fluss gefolgt. Benny fand den Weg zurück in die offene See selbst. Andere haben weniger Glück. Immer öfter verirren sich Waltiere in Flüsse und finden nicht ins Meer zurück. Rettungsaktionen enden meist mit dem Tod der Tiere.
Das Überleben jeder Meerestierart hängt von ihrem angestammten und gesunden Lebensraum ab. Gibt es genug Beute? Sind die Ruhe-, Paarungs- und Aufzuchtgebiete intakt? Sind die Temperaturen im Lebensraum den Tieren angemessen? In den Ozeanen finden grosse Veränderungen statt, ausgelöst durch menschlichen Einfluss und vor allem durch die Folgen des Klimawandels. Immer mehr Meerestiere werden zu «Klimaflüchtlingen».
Sie verlassen möglicherweise ihre Heimat, weil es zu warm, zu laut, zu verschmutzt geworden ist oder zu wenig Nahrung vorhanden ist. Wenn es um die Migrationsgründe geht, ist vieles noch Spekulation. Mit Ihrer Hilfe können wir die Ursachen genauer erforschen und mögliche Lösungen entwickeln.
Das OceanCare-Wissenschaftsteam koordiniert die internationalen Anstrengungen, Empfehlungen für den Schutz solcher in Not geratenen Tiere zu erarbeiten. Wir klären, was in welcher Situation das Beste für das Wohl des Tieres ist. So unterstützen wir Behörden weltweit.
Laetitia Nunny, wissenschaftliche Konsulentin bei OceanCare
Mark Simmonds, Leiter Wissenschaft bei OceanCare
Mark: In den letzten Jahren sind mehrere Walrosse in europäische Gewässer gelangt, und zwar viel weiter südlich als ihr übliches Verbreitungsgebiet. Die Gründe für dieses neuere Phänomen kennen wir heute noch nicht alle. Aber wir nehmen an, dass auch die Auswirkungen des Klimawandels auf ihren arktischen Lebensraum eine grosse Rolle spielen.
Laetitia: Grundsätzlich ist jedes Meeressäugetier, das sich ausserhalb seines Lebensraums befindet, gefährdet. Ein Wal oder Delfin zum Beispiel kann sich nicht allzu lange in Süsswasser aufhalten, ohne dass sich dies negativ auf seine Gesundheit auswirkt. Meeressäuger, die ihren Lebensraum verlassen haben und in stark befahrene Häfen oder Schifffahrtsgebiete geraten, laufen Gefahr, von Booten gerammt zu werden. Robben und Walrosse führen eine amphibische Lebensweise und verbringen einen Teil ihrer Zeit an Land. Die Wahrscheinlichkeit ist daher gross, dass sie ausserhalb ihres angestammten Lebensraums mit Menschen in Kontakt kommen und dadurch gestört oder verletzt werden.
Mark: Denken Sie zum Beispiel an einen Wal, der sich in eine belebte Flussmündung verirrt, wo viele grosse Boote manövrieren und es möglicherweise keine geeignete Beute gibt. Er läuft Gefahr, mit einem Boot zu kollidieren und sich dabei zu verletzen oder zu verhungern.
Laetitia: Wir müssen im Voraus Pläne erarbeiten, damit wir wissen, wie wir reagieren müssen, wenn ein Meeressäuger ausserhalb seines Lebensraums auftaucht. Vielleicht reicht es, ihn zu beobachten und dafür zu sorgen, dass weder Menschen noch Boote in seine Nähe kommen. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir sofort handeln müssen, um das Tier an einen anderen Ort in Sicherheit zu bringen. Dann ist es wichtig, dass die verschiedenen Experten zusammenarbeiten und die richtigen Schutzmassnahmen ergriffen werden.
Laetitia: Das war eine Tragödie. Freya wurde getötet, weil sie als Bedrohung für die Menschen empfunden wurde. Der einzige Grund dafür war jedoch, dass sich Leute näherten und versuchten, mit ihr in Kontakt zu treten. In diesem Fall geht es vor allem um die Aufklärung der Öffentlichkeit, und wir sind zuversichtlich, dass wir diese Sensibilisierung schaffen können.
Mark: Das Wissenschaftsteam von OceanCare hat ausserdem zwei Workshops durchgeführt, an denen internationale Experten, aber auch Menschen teilgenommen haben, die bereits Erfahrungen mit Meeressäugern gemacht haben, die ihren ursprünglichen Lebensraum verlassen hatten. An diesen Veranstaltungen haben wir eine Reihe von Empfehlungen zusammengetragen und in einem Bericht veröffentlicht. Wir hoffen, dass wir diese wichtige Arbeit fortführen können, um Regierungen und NGOs zu ermutigen, künftig enger zusammenzuarbeiten, damit Meeressäuger auch ausserhalb ihrer Lebensräume gerettet und geschützt werden können.
Ja, ich helfe Meeressäuger zu schützen und zu retten, wenn sie sich zum Beispiel verirrt haben oder durch menschlichen Einfluss verletzt werden.
Die wundersame Reise von Wally dem Walross.
OceanCare setzt sich mit Expertise und Passion für die Bewohner der Ozeane ein.
Seit 2011 als UNO-Sonderberaterin für den Meeresschutz.
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