Mark SimmondsLeiter Wissenschaft
Das Phänomen, dass Meeressäuger weit entfernt von ihrem üblichen Verbreitungsgebiet auftauchen, scheint weltweit häufiger zu werden.
Wenn das Walross anklopft: Meeressäuger ausserhalb ihres Lebensraums
Was tun Sie, wenn plötzlich – weit entfernt von seinem natürlichen Lebensraum – ein Walross in Ihrem «Hinterhof» auftaucht? Diese Frage mussten sich in den letzten Monaten zahlreiche Menschen stellen, während Wally, das berühmteste Walross der Welt, seine grosse Europa-Tournee absolvierte. Auf seiner Reise kam er weit in den Süden, bis Spanien, und besuchte Frankreich, Wales, England und Irland. Die Reaktionen auf sein Erscheinen waren gemischt. Zunächst wurde er mancherorts willkommen geheissen, mitunter sogar als neue Touristenattraktion. Bootstouren zu Wally wurden angeboten und teilweise versuchten die Leute sogar, Selfies mit ihm zu machen – ein hochriskantes Unterfangen, denn schliesslich ist er ein unberechenbares und kräftiges (ca. 1 Tonne) Wildtier. Das änderte sich, als er die Angewohnheit entwickelte, sich auf das Deck kleiner Boote zu wuchten, wobei er sie beschädigte und in ein paar Fällen sogar zum Kentern brachte. Forderungen wurden laut, er möge rasch vertrieben (oder sogar getötet) werden. So verwandelte er sich binnen kurzer Zeit von einer beliebten Kuriosität zu einer unliebsamen Plage. Wer aber sollte dafür zuständig sein, sich um ihn zu kümmern?
In Grossbritannien, wo er vermutlich am längsten verweilte, u.a. im betriebsamen Hafen von St. Mary’s auf den Scilly-Inseln, übernahmen lokale Volontäre und die freiwillige Tierrettung unter Führung der British Divers Marine Life Rescue (BDMLR) diese Aufgabe. Sie alle mussten sich selbst einen Crashkurs in Walross-Biologie geben – indem sie Walross-Experten weltweit konsultierten – und gebaren schliesslich die pfiffige Idee, Wally einen massgeschneiderten Ponton zur Verfügung zu stellen, auf dem er rasten konnte. Das funktionierte gut. Es gab auch ernsthafte Überlegungen, Wally zu fangen und in den Norden zu fliegen. Als er nach Irland übersiedelte (sein vorletzter Umzug), reisten die Bootsbeschädigungen und andere Probleme mit ihm. Und erneut wurde erfolgreich ein spezieller Ponton eingesetzt.
Wie alle Flossenfüsser (Seehunde, Seebären, Walrosse und andere Robben) braucht er die Möglichkeit, ausserhalb des Wassers zu rasten. In seiner arktischen Heimat würden dazu Eisschollen oder Küsten dienen. Diese Tiere brauchen sogar ziemlich viel Erholung (sie liegen nicht einfach faul herum) und – wie wir – sind sie dabei gerne ungestört. Menschen, die mit Booten zu seiner Rastplattform fahren, um Wally anzuschauen oder zu fotografieren, hätte seine Ruhezeiten durchbrochen. Es gab auch die begründete Annahme, dass ausreichend Nahrung und Ruhe ihm ermöglichen, eine ausreichend grosse Fettschicht anzulegen, mit der er es zurück in die Arktis schaffen könnte. Den jüngsten Berichten zufolge, wonach er sich nun in einem isländischen Hafen aufhält, ist er auf dem richtigen Weg zurück zu seinem natürlichen Lebensraum.
Dass sich ein Walross so weit südlich aufhält, ist äusserst ungewöhnlich. Es gibt aber aus jüngerer Zeit Berichte von einem zweiten an der Küste Kontinentaleuropas und weltweit scheint es ein häufiger werdendes Phänomen zu sein, Meeressäuger weit entfernt von ihrem üblichen Verbreitungsgebiet anzutreffen. Dazu zählen Delfine und sogar Grosswale, die Flüsse hinaufschwimmen, Seeleoparden, die sich an neuseeländische Stadtränder vorwagen, See-Elefanten, die sich an ungewöhnlichen Orten «herumtreiben», Delfine in der Lagune von Venedig und eine steigende Zahl an Belugas, die weit entfernt von ihrem arktischen Lebensraum auftauchen. Meist geht es dann in erster Linie um das Wohlergehen der Tiere – in betriebsamen Häfen könnten sie z.B. von Booten verletzt werden – und darum, ob sie zu ihrem Wohl «nach Hause» gebracht werden sollten. Manchmal gibt es aber auch berechtigte Sorge um die Sicherheit der Menschen. Zum Beispiel können viele grosse Meerestiere mit ihren Zähnen oder ihren kräftigen Schwanzflossen erhebliche Verletzungen verursachen – besonders dann, wenn man sich für ein Selfie auf sie draufsetzen möchte!
In manchen Ländern, etwa in den USA und Kanada, gibt es Behörden, die mit der Reaktion auf diese oft verblüffenden Situationen befasst sind. In den allermeisten Ländern gibt es aber keine solche öffentlich finanzierte Hilfe und dann kann sich ein beträchtlicher Druck auf nationale oder lokale Organisationen wie BDMLR aufbauen, besonders wenn die Öffentlichkeit die Massnahmen nicht versteht oder nicht zu würdigen weiss. Zum Beispiel ist ein Monitoring oft die beste Reaktion, die es dem Tier ermöglicht, sich aus eigener Kraft wieder in eine bessere Lage zu bringen. Die breite Öffentlichkeit kann das aber als Passivität empfinden. Es hat sich gezeigt, dass Tiere mitunter auch ausserhalb ihres natürlichen Lebensraums, teilweise sogar in krass unnatürlichen Situationen, Nahrung finden und gesund bleiben können. Ein solcher bestätigter Fall ist jener des Belugas in der Londoner Themse in den Jahren 2018/19. Zwar waren der Bootsverkehr und die vielen Störfaktoren um ihn herum ein Grund zur Sorge, aber es gab keine unmittelbare Notwendigkeit für einen Rettungsversuch. Dies führt uns zu einem weiteren Gedanken. Einen grossen Meeressäuger zu fangen und zu transportieren, kann sowohl das Tier selbst als auch die beteiligten Menschen in Lebensgefahr bringen. Solche Interventionen müssen sehr sorgfältig abgewogen, akribisch geplant und von Experten unterstützt werden.
Der Themse-Beluga ist einer von mehreren dieser bemerkenswerten arktischen Weisswale, die in den letzten Jahren weitab ihrer Heimat beobachtet wurden, zuletzt diese Woche im Puget Sound im US-Bundesstaat Washington. Bei manchen Belugas kann es zum normalen Verhaltensrepertoire gehören, über ihre primären Lebensräume hinauszugehen. Bei Walrossen oder anderen jüngst beobachteten Wanderern ist dies aber weit weniger wahrscheinlich. Tiere, die ihr normales Verbreitungsgebiet verlassen, könnten krank oder verletzt sein und ihr Verhalten von Schmerz, Fieber oder psychischen Störungen verursacht. Andere könnte durch Habitatverluste (etwa durch das Schmelzen des Packeises in der Arktis) oder durch menschengemachten Lärm vertrieben worden sein. Im Meer gibt es keine festen Grenzen und ungewöhnliche Ortswechsel scheinen – aus welchen Gründen auch immer – häufiger zu werden. Wir müssen also danach trachten, besser darauf vorbereitet zu sein. Hoffentlich wird Wallys Geschichte ein glückliches Ende haben und er wird von Island nordwärts schwimmen und wieder mit seinesgleichen vereint sein. Die Rückkehr des verlorenen Walrosses!
Weiterführender Link:
www.geo.de/natur/tierwelt/walross–wally–wird-zur-touristenattraktion-30469308.html