Carlos Bravo VillaOcean Policy Expert

OceanCare fordert die EU-Mitgliedstaaten und das EU-Parlament dringend auf, das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur anzunehmen.

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Hoffnungsschimmer für eine Erholung der Natur in der Europäischen Union

14. November 2023

Die Natur in der Europäischen Union (EU) befindet sich in einem schlechten Zustand, der sich sukzessive verschlechtert. Die jüngste Bewertung der Europäischen Umweltagentur (EUA) zeichnet ein alarmierendes Bild und kommt zu dem Schluss, dass nur 15% der Lebensräume, die alle Arten von Tieren und Pflanzen beherbergen, in einem guten Zustand sind. Alle Tiergruppen sind von dieser Verschlechterung stark betroffen. So befinden sich beispielsweise 82% der Fischpopulationen in einem schlechten oder mangelhaften Zustand.

Die EUA stellt fest, dass sich die Situation weiter verschlechtert: Von den Lebensräumen und Arten innerhalb der EU, die sich in einem schlechten oder mangelhaften Zustand befinden, verschlechtert sich die Situation für mehr als einen Drittel weiter. Nur 9% der Lebensräume und 6% der Arten in schlechtem oder mangelhaftem Zustand weisen einen Aufwärtstrend auf.

Angesichts dieser besorgniserregenden Situation hat die EU-Kommission im Juni 2022 einen Vorschlag für ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law – NRL) vorgelegt, das zur langfristigen Erholung der geschädigten Natur in den Land- und Meeresgebieten der EU beitragen soll. Ziel der Gesetzesinitiative ist es, bis 2030 20% der geschädigten Land- und Meeresökosysteme in der Europäischen Union wiederherzustellen, und bis 2050 fast deren Gesamtheit. Es ist sozusagen das fehlende Puzzlestück, um die Klima– und Biodiversitätsziele der EU zu erreichen und die internationalen Verpflichtungen der EU zu erfüllen, insbesondere das UN Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework. Der Kommission zufolge würde das neue Gesetz erhebliche wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen und jeder investierte Euro zu mindestens 8 Euro an Nutzen generieren.

Trotz der dringenden Notwendigkeit, Europas zunehmend angeschlagene Natur wiederherzustellen, trotz der entsprechenden Vorteile für die öffentliche Gesundheit, und sogar trotz der nachgewiesenen wirtschaftlichen Vorteile, die dies mit sich bringen würde, wurde der Gesetzesvorschlag (NRL) absurderweise von der Europäischen Volkspartei (EVP) und den rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament scharf angegriffen. Die Initiative zur Wiederherstellung der Natur der EU wäre beinahe gescheitert.

Am Ende scheiterte jedoch die EVP und ihre Partner. Das Europäische Parlament konnte sich in seiner Plenarsitzung im Juli 2023 mit einer knappen Mehrheit – 336 Ja-Stimmen, 300 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen – ein Verhandlungsmandat erteilen. Dieses Ergebnis kam dank der Unterstützung von Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken sowie von 21 der 178 EU-Abgeordneten der EVP, die nicht der Parteilinie folgten, zustande. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission ging jedoch äusserst geschwächt aus dem Prozess im EU-Parlament hervor.

Die Tatsache, dass im Europäischen Parlament eine Einigung erzielt wurde, bedeutete, dass der Gesetzgebungsprozess fortgesetzt wurde und die dreigleisigen Verhandlungen (Triloge) zwischen der Kommission, dem Rat und dem Parlament, um eine Einigung über den endgültigen Text des Gesetzesvorschlags (NRL) zu erzielen, beginnen konnten.

Dank des Drucks von Nichtregierungsorganisationen als Vertreter der Zivilgesellschaft sowie der konstruktiven Arbeit der spanischen Ratspräsidentschaft, des Berichterstatters des EU-Parlaments und der EU-Kommission konnte am Donnerstag 9. November nach mehr als neun Verhandlungsstunden in der letzten Trilog-Runde eine finale Einigung erzielt werden, die im Vergleich zum abgeschwächten Text des EU-Parlaments erhebliche Verbesserungen enthält. Dennoch gibt es zahlreiche Ausnahmen und eine übermässige Flexibilität in Bezug auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten.

Zu den Fortschritten gehört, dass alle Arten von Lebensräumen wiederhergestellt werden müssen und nicht nur diejenigen, die zum Natura-2000-Netz gehören. Im endgültigen Text wird jedoch eingeräumt, dass die Wiederherstellung der letzteren bis 2030 „vorrangig“ sein wird. Darüber hinaus sollen bis 2030 Massnahmen zur Wiederherstellung von „mindestens“ 30% der unter das neue Gesetz fallenden Lebensräume ergriffen werden. Der Prozentsatz steigt bis 2040 auf 60% und bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 90% an.

Artikel 9 zur Wiederherstellung von Agrarökosystemen (einschliesslich Torfgebieten, die für die landwirtschaftliche Nutzung abgebaut und entwässert wurden), dessen Streichung das EU-Parlament in seiner finalen Fassung gefordert hatte, wurde in den endgültigen Text aufgenommen, wobei einige Anforderungen allerdings flexibler gestaltet wurden, etwa dass die Mitgliedstaaten nur zwei der drei Indikatoren (Grünflächen-Schmetterlingsindex, organischer Kohlenstoffbestand in mineralischen Ackerböden, Anteil landwirtschaftlicher Flächen mit Landschaftselementen von hoher Vielfalt) erfüllen müssen.

Und obwohl eine von der EVP geforderte so genannte „Notbremse“ (die es ermöglicht, die in dem Gesetz vorgesehenen Massnahmen „aus unvorhergesehenen dringenden Gründen, die es unmöglich machen, einige der Ziele fristgerecht zu erreichen“, für bis zu einem Jahr auszusetzen) im Interesse der Ernährungssicherheit beibehalten wird, wurde dieser Mechanismus von sehr strengen Annahmen abhängig gemacht. Er bildet im Prinzip eine Situation ab, deren Eintreten sehr unwahrscheinlich ist, womit die „Schutzmassnahme“ wenig reale Auswirkungen haben dürfte.

Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (NRL) ist nun näher daran, zur Realität zu werden, noch ist das Gesetzgebungsverfahren aber nicht abgeschlossen.

Die in den Trilogen erzielte Einigung muss noch von den Mitgliedstaaten gebilligt werden und Ende November eine entscheidende Abstimmung im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments (ENVI) durchlaufen, wo konservative Gruppen erneut versuchen könnten, das Gesetz zu blockieren. Sollte der Text im ENVI nicht angenommen werden, müsste ein neuer Trilog eingeleitet werden. Wird der Text hingegen angenommen, muss er bei der für Dezember 2023 geplanten Plenarabstimmung des Parlaments endgültig verabschiedet werden.

OceanCare fordert die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament dringend auf, den finalen Text, auf den man sich beim Trilog am 9. November geeinigt hat, anzunehmen und die dringend benötigte Wiederherstellungsarbeit nicht zu verzögern, die der EU helfen wird, die Klima- und Biodiversitätskrise einzudämmen. Es ist von äusserster Dringlichkeit, dass sich die Natur und die biologische Vielfalt in der EU erholen können.