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Aquakultur: Wie ein Fisch im Wasser?

05. Oktober 2021

Tierwohl bei Fischen ist eine Blackbox, die Forschung hinkt hinterher. Es dominiert der pragmatische Ansatz: Hauptsache die Fische fressen und wachsen.

In Netzkäfigen, Teichen und Becken der weltweiten Aquakultur leben bis zu 180 Milliarden Fische: die Nummer eins der für menschliche Nahrung gehaltenen Wirbeltiere. Aber sind die für das menschliche Auge unsichtbaren Tiere auch gesund? Können Sie ihre natürlichen Verhaltensweisen ausleben? Oder sind sie gestresst, krankheitsanfällig und leiden unter schlechter Wasserqualität, engen Netzkäfigen und strukturlosen Becken?

Jede einzelne der 350 in Aquakultur gehaltenen Arten hat andere Eigenschaften. Um deren Bedürfnisse, um Leid und Wohl der Fische weiss man viel zu wenig. In allen Veröffentlichungen beklagen die Autoren, dass das Fischwohl unzureichend erforscht ist. Noch immer wird leidenschaftlich gestritten, ob Fische Schmerz überhaupt bewusst empfinden. Inzwischen beantwortet die Mehrheit der Wissenschaftler diese Frage eindeutig mit „ja“. Es gibt „substanzielle Belege dafür, dass Fische empfindungsfähige Wesen“ sind, heisst es in dem 2019 von der Welternährungsorganisation FAO vorgelegten Report Tierwohl von Fischen in Aquakultur.

Verantwortlich für das Fischwohl sind die oft schlecht ausgebildeten Anlagenbetreiber. Sie müssen erkennen, wenn Fische gestresst sind, ausgezehrt, wenn sich ihre Farbe verändert, Flossen und Haut Verletzungen aufweisen? Fischexperte Prof. Dieter Steinhagen, Mitverfasser des FAO-Papiers, moniert, dass gerade Quereinsteiger oft zu wenig Erfahrung mitbringen. Eine Studie zur Aquakultur in Indien – weltweit zweitgrösster Produzent – ermittelte, dass in 13 von 16 untersuchten Fischfarmen das Personal nicht ausgebildet war.

Ein Wanderfisch im Netzkäfig

Nach welchen Kriterien soll das Fischwohl beurteilt werden? Die Fish Welfare Initiative, ein Zusammenschluss internationaler Forscher, hat fünf Punkte herausgestellt. Fische müssen:

  • gut gefüttert werden
  • in geeignetem Lebensraum mit guter Wasserqualität und passender Temperatur leben
  • frei von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten sein
  • frei von Angst, Stress und Leid
  • die Möglichkeit haben, sich natürlich zu verhalten

Schon die Forderung nach natürlichem Verhalten erweist sich als unvereinbar mit vielen Formen der Aquakultur. Karpfen, Schleien und Co. haben im grossen Teich noch ein natürliches Habitat. Aber wie soll der Lachs als Raub- und Wanderfisch in den Netzkäfigen vor der Küste sich natürlich verhalten? Mit ihrem grossen Aktionsradius sind sämtliche Raubfische in der marinen Aquakultur am falschen Platz.

Die Anlagenbetreiber konzentrieren sich auf das pragmatische „funktionale“ Tierwohl. Gesundheit, Wachstum und Gewichtszunahme sind danach die entscheidenden Punkte. Spitz formuliert: Solange der Fisch „funktioniert“ und wächst, ist alles in Ordnung. Nach diesem Konzept sind auch komplett unnatürliche Haltungsbedingungen in strukturlosen Becken mit dem Fischwohl vereinbar, solange die Tiere an Gewicht zulegen und keine Krankheitsmerkmale zeigen.

Eine wichtige Messgrösse fürs Fischwohl ist das Stressniveau. Wissenschaftler messen das Stresshormon Cortisol im Blut der Fische. In der üblichen Fischhaltung wird das aber kaum praktiziert, latenter Stress bleibt häufig verborgen. Elementare Voraussetzung für das Wohlbefinden ist eine gute Wasserqualität und der Schutz vor Räubern wie etwa dem Kormoran. Aber auch eine schlechte Beleuchtung, Vibrationen oder Lärm können Fische belästigen.

Offensichtlicher Beleg für schlechtes Fischwohl sind die häufigen Krankheiten und Verluste der Aquakultur. In der oben zitierten Studie schwankten die Fischverluste nach Selbstauskunft der Betreiber zwischen 6 und 50 Prozent. Infektionskrankheiten und Parasitenbefall sind fast die Regel. Die Hälfte der Betriebe bekannte sich zum Einsatz von Antibiotika. Krankheiten und Seeläuse machen vor allem den Lachsfarmen seit Jahren gravierende Probleme. In den Lachsfarmen Chiles wurden im Jahr 2017 nach Angaben des Fischmagazins 393,9 Tonnen Antibiotika verbraucht, das entspricht mehr als der Hälfte des Antibiotikaverbrauchs der gesamten deutschen Nutztierhaltung.

Der Lachs als neuer Veganer

Natürlich hat auch das Futter eine herausragende Bedeutung. Kaum eine Fischart ist so genügsam wie der robuste Karpfen, der ohne Zusatzfütterung gedeihen kann. Das Gegenstück ist wiederum der Lachs. Er wurde über Jahrzehnte mit Fischmehl aufgezogen. Weil Fischmehl inzwischen sehr teuer ist und weil die Lachsfarmen wegen ihres hohen Fischverbrauchs immer wieder kritisiert werden, hat sich die Futterzusammensetzung stark verändert. In norwegischen Lachsfarmen ist heute Soja wichtigster Futterbestandteil, dazu Getreide, Leguminosen, Raps und eine Restmenge Fischmehl. Weil Fische keine Kohlenhydrate verdauen, muss das Futter aufwändig aufbereitet werden. Die Umerziehung der Lachse zum Veganer zeigt die Verirrungen einer Branche und ist mit unserem Verständnis von Fischwohl nicht vereinbar.

Auch Transport und Schlachtung sollten stressfrei sein. Fehlerhaft betäubte Fische können noch bis zu 20 Minuten leiden. Fehlbetäubungen kommen in automatisierten Schlachtanlagen häufig vor. Auch das „Einsammeln“ und Transportieren der Fische zum Schlachtbetrieb ist mit hohem Stresslevel verbunden.

Wie ist es nun ums Tierwohl unter Wasser bestellt? Fazit der Fish Welfare Initiative: „Wir glauben, dass viele Anlagen der Aquakultur ein schlechtes Fischwohl aufweisen.“ Höchste Zeit also, unter die Oberfläche zu blicken und die Missstände aufs Korn zu nehmen.

Schmerzmittel für Forellen

Die Fischexperten Culum Brown und Catherine Dorey berichten in einer Broschüre der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung über Intelligenz, Schmerzen und Gefühle von Fischen. Für ihr Schmerzempfinden gebe es „überwältigende Beweise“, es sei sogar ausgeprägter als das von Vögeln, Reptilien oder Amphibien. Injiziere man Forellen eine kleine Dosis Bienengift in die Lippe, würden sie stundenlang jedes Fressen vermeiden. Gibt man ihnen ein Schmerzmittel, kehren sie wieder zum normalen Fressverhalten zurück.

Ein anderes Beispiel, das die beiden Autorinnen erwähnen sind energielos apathische Fische. In den Lachsfarmen würden immer wieder einige Exemplare auffallen, die weitgehend regungslos an der Wasseroberfläche schwimmen. Verhalten und Hirnchemie dieser Fische ähnelten der Apathie gestresster und depressiver Säugetiere.

Quelle: Internationale Gesellschaft für Nutztierhaltung: Fischwohl in der Aquakultur – Probleme und Lösungsansätze, Dezember 2020