Medienmitteilung

IUCN alarmiert: Viele Wal- und Delfinarten im Mittelmeer gefährdet

09. Dezember 2021

Fast alle Wal- und Delfinarten im Mittelmeer sind in der neuen Roten Liste der IUCN in einer Gefährdungskategorie eingestuft; vier Populationen sind sogar vom Aussterben bedroht. Heute präsentierte die Internationale Naturschutzunion (IUCN) ihre neueste Bewertung des Erhaltungszustandes von Wal- und Delfinarten im Mittelmeer, wobei neun von elf regelmässig im Mittelmeer vorkommenden Arten in eine der Gefährdungskategorien gestellt werden mussten. Zusammen mit ihren Forschungspartnern Dolphin Biology and Conservation, Morigenos und Tethys Research Institute appelliert OceanCare an die Mittelmeer-Anrainerstaaten, wissenschaftsbasierte Erhaltungsmassnahmen umzusetzen, um diesen Trend umzukehren.

Teilpopulationen von vier Arten – Gewöhnlicher Delfin im Golf von Korinth (noch ca. 20 Tiere), Grosser Tümmler im Ambrakischen Golf (ca. 150 Tiere) sowie Orca (ca. 30 Tiere) und Grindwal in der Strasse von Gibraltar – sind vom Aussterben bedroht. Zu den Hauptgefahren zählt die Fischerei, die zu Nahrungsmangel, Lebensraumzerstörung und Tod durch Beifang führt. Unterwasserlärm, chemische Verschmutzung, Plastik und die zunehmende Wassertemperatur als Folge des Klimawandels bilden einen Gefahrenmix, der den Druck auf das Überleben der Meeressäuger signifikant erhöht.

«Das Mittelmeer ist schlichtweg kein sicherer Lebensraum für Wale und Delfine. Das ist bereits seit Jahrzehnten so, aber die nun vorgestellten Trends zeigen, dass sich die Lage der meisten Arten noch weiter verschlechtert. Die Politik muss sich darüber im Klaren sein, dass Wale und Delfine als Indikator für den Zustand der Meere zu betrachten sind. Basierend auf der aktuellen Bewertung der Meeressäuger sollten mehr als nur die Alarmglocken läuten», fordert Nicolas Entrup, Ko-Leiter Internationale Beziehungen bei OceanCare, von Regierungen Handlungen ein.

«Wale und Delfine können sich mitunter als erstaunlich resilient gegenüber anthropogenen Belastungen erweisen. Dass sich die Situation der meisten Populationen verschlechtert statt verbessert, zeigt aber, dass wir ihnen zu viel zumuten. Und das gilt nicht nur für Wale und Delfine. Alle diese Bedrohungsfaktoren schädigen das gesamte Ökosystem, von dem letztlich auch wir Menschen abhängen», erinnert Tilen Genov, Präsident von Morigenos – Slovenian Marine Mammal Society und Mitglied der IUCN Cetacean Specialist Group.

Joan Gonzalvo, Direktor Ionian Dolphin Project des Forschungsinstituts Tethys und Vorsitzender der European Cetacean Society, gibt ein Beispiel: «Massnahmen, die das Überleben des vom Aussterben bedrohten Grossen Tümmlers im Ambrakischen Golf sichern, hätten für das gesamte marine Ökosystem positive Auswirkungen. Als Flagschiffart nehmen Delfine für den Meeresschutz eine zentrale Rolle ein.»

Rückgang der Grosswale im Mittelmeer

Auch die Zukunft der beiden Grosswalarten, die dauerhaft im Mittelmeer leben, schaut nicht rosig aus. Der Pottwal wurde wieder als «stark gefährdet» eingestuft, während der einzige Bartenwal des Mittelmeers, der Finnwal, von «gefährdet» auf «stark gefährdet» hochgestuft werden musste. Während der Finnwal-Bestand zuvor auf 3500 Tiere geschätzt wurde, dürfte sich der aktuelle Bestand mit etwa 1800 Tieren halbiert haben. Diese Zahl basiert auf der grossen ACCOBAMS Survey Initiative (ASI), die vom Übereinkommen zum Schutz der Wale des Schwarzen Meeres und des Mittelmeeres (ACCOBAMS) ermöglicht wurde.

Pott- und Finnwale sind besonders durch Kollisionen mit Schiffen und durch anthropogenen Unterwasserlärm bedroht. Ausserdem haben sich Wissenschaftler jüngst äusserst besorgt über die Gefahren durch Mikro- und Makroplastik gezeigt, das von beiden Walarten bei der Nahrungssuche aufgenommen wird.

«Die Situation ist sehr besorgniserregend und verlangt nach unverzüglichen Massnahmen. ACCOBAMS und die Internationale Walfangkommission entwickeln einen Erhaltungsplan für  Finnwale im Mittelmeer mit verschiedenen Forschungs- und Schutzmassnahmen, die von den Anrainerstaaten unter Beteiligung aller Stakeholder umgesetzt werden sollen», erklärt Simone Panigada, Präsident des Tethys Research Institute und Vorsitzender des ACCOBAMS-Wissenschaftsausschusses.

Zum Schutz der Pottwale im östlichen Mittelmeer arbeitet OceanCare mit anderen NGOs zusammen, darunter der Internationale Tierschutzfonds (IFAW), das Pelagos Cetacean Research Institute und WWF Griechenland. Die Koalition fordert Reedereien auf, ihre Schifffahrtsrouten einige Seemeilen zu verlegen, um die für Pottwale so wichtigen Gewässer südwestlich vor Kreta und westlich des Peloponnes zu umfahren. Zusätzlich konnte OceanCare dieses Jahr erfolgreich ein Pilotprojekt zur Lokalisierung von Pottwalen abschliessen. Die eigens entwickelten Bojen lokalisieren Pottwale und übertragen Daten in Echtzeit, um Schiffskapitäne vor möglichen Kollisionen zu warnen, die Route zu ändern und das Tempo zu drosseln. OceanCare appelliert auch an die Regierungen, die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) und die Reedereien, generell für eine geringere Fahrtgeschwindigkeit zu sorgen. Dies ist die wirksamste Option, damit Wale nicht von Schiffen gerammt werden und zur Reduktion von Unterwasserlärm und Treibhausgasemissionen.

Erst Ende November beschloss der Wissenschaftsausschuss von ACCOBAMS einige Empfehlungen für Sofortmassnahmen, mit denen auf die neue Rote Liste zu reagieren ist. Alle ACCOBAMS-Vertragsstaaten müssen diese Schutzmassnahmen umsetzen, um einen günstigen Erhaltungszustand der Arten im Übereinkommensgebiet zu erreichen, sowie jene Massnahmen verwirklichen, die in den Erhaltungsplänen vorgesehen sind.

«Arten und Populationen zu schützen, ist natürlich äusserst wichtig, aber wir sollten uns nicht damit zufriedengeben, durch Schutzmassnahmen lediglich die Anzahl der Tiere zu stabilisieren. Wozu sollen Arten überleben, wenn die Tiere dann ständig Gefahr laufen, in einem Netz zu ersticken, von Schiffspropellern zerstückelt, durch Schallkanonen taub oder durch giftige Chemikalien oder Plastik krank zu werden? Unsere Aufgabe ist erst dann erfüllt, wenn wir wissen, dass die Tiere in ihrem Lebensraum gedeihen», sagt Giuseppe Notarbartolo di Sciara, Gründer des Tethys Research Institute und Experte für Meeressäuger bei der Bonner Konvention zum Schutz wandernder Tierarten.

«Die Wiederherstellung der marinen Artenvielfalt wird nicht nur Walen und Delfinen nützen, sondern auch eine bessere, d.h. lebenswertere und gerechtere Welt für künftige Generationen ermöglichen. Angesichts des derzeitigen Ausmasses der Bedrohung der Biosphäre und aller Lebensformen ist es für unsere eigene Spezies zu einer Frage des Überlebens geworden, nicht nur die zerstörerische und nicht nachhaltige Ausbeutung zu reduzieren, sondern auch ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, um komplexe und widerstandsfähige terrestrische und marine Nahrungsnetze wiederzubeleben», schliesst der Meeresschutzbiologe Giovanni Bearzi.

Weiterführende Informationen

OceanCare-Bericht UNDER PRESSURE. The need to protect whales and dolphins in European waters

Rote-Liste-Kategorie: Beurteilung von Walen und Delfinen im Mittelmeer 2018-21

vom Aussterben bedroht
Gewöhnlicher Delfin im Golf von Korinth
Grindwal in der Strasse von Gibraltar
Grosser Tümmler im Ambrakischen Golf
Orca in der Strasse von Gibraltar
Stark gefährdet
Finnwal im Mittelmeer
Gewöhnlicher Delfin im zentralen Mittelmeer
Grindwal im zentralen Mittelmeer
Pottwal im Mittelmeer
Rundkopfdelfin im Mittelmeer
Streifendelfin im Golf von Korinth
Gefährdet
Cuvier-Schnabelwal im Mittelmeer
Gefährdung droht
Rauhzahndelfin im Mittelmeer
Nicht gefährdet
Grosser Tümmler im Mittelmeer
Streifendelfin im Mittelmeer