Story

Iberische Orcas und ihre Interaktion mit Schiffen: Eine Stellungnahme von OceanCare

11. Juli 2023

In den vergangenen Jahren gab es eine Reihe von Vorfällen vor Portugal, Spanien, Marokko und zuletzt auch Frankreich, bei denen Orcas Schiffe beschädigten. Dieses bis dahin unbekannte Verhalten hat sehr grosses öffentliches Interesse erregt. Manche Medienberichte zeichneten ein Bild von den Orcas als bösartig oder sogar rachsüchtig. OceanCare sieht dafür keinerlei Hinweise. Diese Art der Berichterstattung und von Erzählungen kann aber unsere Reaktionen gegenüber diesen Tieren beeinflussen. Auf Grund dessen stellen wir im folgenden Kurzbericht unser Verständnis der Situation dar und rufen dazu auf, diese vom Aussterben bedrohten Tiere zu schützen und ihnen mit Respekt zu begegnen, auch wenn das besprochene Verhalten einzelner Tiere für uns unangenehm sein kann.

Zusammengefasst:

  1. Es handelt sich um ein neuartiges Verhalten, das ebenso schnell wieder verschwinden könnte, wie es auftauchte.
  2. Orcas fressen keine Menschen.
  3. Orcas sind sehr intelligent. Sie leben in engen Familienverbänden und lernen voneinander, wodurch sie über die Welt verteilt verschiedene kulturelle Einheiten formen.
  4. Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass die Orcas mit Angriffen auf Schiffe Vergeltung suchen; viel eher dürfte es sich um Spiel- oder Erkundungsverhalten handeln.
  5. Die betreffende Subpopulation ist sehr klein und vom Aussterben bedroht.
  6. Derzeit weiss noch niemand, warum genau sich dieses Verhalten entwickelt hat und wie man damit am besten umgeht.

Erhaltungszustand der Population

Die Orcas, die sich gegenüber Schiffen so derb verhalten, gehören zur iberischen Subpopulation. Mit weniger als 50 Mitgliedern, einer geringen Zahl an Erwachsenen und einer langsamen Fortpflanzungsrate wurde diese Subpopulation in der Roten Liste der IUCN als vom Aussterben bedroht eingestuft. Ausserdem hängen diese Orcas stark vom Atlantischen Blauflossenthun ab, einer Fischart, die ihrerseits überfischt und selten geworden ist. Die Fortpflanzung könnte überdies durch chemische Verschmutzung beeinträchtigt sein. Und wie andere Wale und Delfine im Nordostatlantik sind sie vielen menschengemachten Stressoren und Gefahren ausgesetzt, darunter Lärm, Müll und Beifang. [1]

Wo fanden die Vorfälle mit Orcas statt?

Die räumliche Verteilung der Orca-Schiff-Vorfälle variiert von Jahr zu Jahr. Bisher zeigen sich keine Muster, die Vorhersagen erlauben würden. Erstmals wurde dieses Verhalten im Mai 2020 in der Meerenge von Gibraltar registriert. Danach breitete es sich auf die angrenzenden Gewässer Portugals und über Galizien und den Golf von Biskaya bis nach Frankreich aus.

Monatliche Interaktionskarten werden hier veröffentlicht und die Grupo Trabajo Orca Atlantica (GTOA) führt eine regelmässig aktualisierte Ampelkarte über die Wahrscheinlichkeit der Präsenz von Orcas entlang der Iberischen Halbinsel. Die GT Orcas App (Play Store und Apple Store) zeigt aktuelle Sichtungen und Interaktionen. Die Cruising Association (CA) empfiehlt, die App für Meldungen auf See zu nutzen und später einen ausführlicheren Bericht an die CA zu schicken.

Entwicklung dieses Verhaltens und Vergleich mit anderen Verhaltensmerkmalen bei Orcas

Orcas interagieren offenbar vor allem mit Schiffen einer bestimmten Grösse (5-21 m, Durchschnitt 12 m), hauptsächlich Segelbooten, und hier insbesondere mit deren Rudern. Die Interaktionen sind oft heftig, wobei die Ruder stark manipuliert und manchmal abgebrochen werden. Dadurch kann auch das gesamte  Schiff von den Tieren schnell in eine Schaukelbewegung versetzt werden. In vier Fällen hat dies zum Verlust des Bootes geführt.

Niemand weiss, warum die Orcas mit diesem Verhalten begonnen haben. Medienberichte, der Ausgangspunkt könnten Racheaktionen eines dominanten Weibchens nach einer unangenehmen Interaktion mit einem Boot gewesen sein, mögen zwar plausibel klingen, sind aber reine Spekulation. Es gibt jedoch auch gesichertes Wissen über diese Situation und Orcas im Allgemeinen:

  • Es handelt sich um ein neues, noch nie dagewesenes Verhalten. Zwar gab es in der Vergangenheit einige wenige Berichte über Interaktionen mit Kontakt zwischen Orcas und Booten, aber nur sehr selten und nie wurde etwas in der Art dieser Ruderfixierung berichtet.
  • Orcas sind sehr intelligent, leben in engen Familienverbänden und lernen voneinander. Auch dieses Verhalten wird von den Mitgliedern innerhalb einer Population erlernt.
  • Verhaltensweisen wie diese, die keinen erkennbaren Nutzen für die Tiere haben, wurden schon früher bei Orca-Populationen beobachtet, darunter – vielleicht am bekanntesten – eine Modeerscheinung, bei der einige Orcas sich selbst tote Fische auf dem Kopf platzierten. Solche Verhaltensmarotten können plötzlich auftreten, sich ausbreiten und dann wieder verschwinden, und wir hoffen, dass dies auch bei dem besprochenen Verhalten der Fall sein wird.
  • In der gesamten Geschichte der Interaktionen zwischen Menschen und Orcas in freier Wildbahn gab es keinen einzigen Fall eines direkten Angriffs auf Menschen oder irgendeine Form von Prädationsverhalten uns gegenüber.
  • Die verschiedenen Orca-Populationen haben sich auf unterschiedliche Beutetiere spezialisiert (u.a. daran zeigt sich, dass sie unterschiedliche Kulturen haben). Manche, wie die iberischen Orcas, fressen Blauflossenthunfisch, andere erbeuten Haie und Rochen und wieder andere jagen Wale (auch solche, die viel grösser sind als sie selbst) – daher kommt auch die Bezeichnung „Killerwal“, die von „Killer der Wale“ abgeleitet ist. Junge Orcas lernen von ihrer Mutter und anderen erwachsenen Walen, was sie zum Überleben brauchen, u.a. wie sie bestimmte Beutetiere fangen und wo sie sie finden können.
  • Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass sich die iberischen Orcas kleinen Booten als Teil ihres Fressverhaltens annähern – wir stehen nicht auf ihrer Speisekarte.

In der Literatur finden sich zwei Berichte aus den 1970er Jahren, in denen Schiffe durch Einwirkung von Orcas verlorengingen. Anders als damals dauern die aktuellen heftigen Interaktionen zwischen einigen iberischen Orcas und kleinen Schiffen schon über mehrere Jahre an und haben sich unter den Individuen dieser Population ausgebreitet. Dieses Verhalten scheint aber auf diese eine Gruppe beschränkt zu sein und wurde noch nie von einem anderen Ort vertrauenswürdig berichtet.

Warum also tun sie das? Wie andere intelligente, soziale Säugetiere lernen sie voneinander und sind von Natur aus neugierig. Sie erkunden ihre Umwelt, indem sie sie durchstöbern und mit den Dingen darin „spielen“. Es kann sein, dass das Manipulieren von Rudern und das Herumschieben von Booten eine Form von Spielverhalten ist. Möglicherweise macht es ihnen Spass, und sie haben auf jeden Fall gelernt, bis zu welcher Grösse Boote manipuliert werden können. Dieselbe Population hat gelernt, Thunfische von Fischerleinen zu holen; in diesem Fall ist der Nutzen für sie klar.

Mit gesundem Menschenverstand reagieren

In Anbetracht der vielen Unbekannten und des hohen Risikos für Eigentum und Menschen in dieser Situation übernimmt OceanCare keine Verantwortung für Ratschläge, die aus dieser kurzen Zusammenfassung abgeleitet werden, aber wir halten fest, dass Segler und andere Schiffer von verschiedenen Stellen Rat einholen können, der grösstenteils dem gesunden Menschenverstand entspricht. Da sich die Orcas vor allem am Ruder zu schaffen machen, sollte man sich von diesem entfernen und nicht die Pinne oder andere mit dem Ruder verbundene Teile festhalten, denn die enorme Kraft, mit der ein Orca auf das Ruder einwirkt, bewegt natürlich auch die verbundenen Teile, was zu Verletzungen führen kann.

Es ist auch denkbar, dass die Orcas durch aufgeregte Reaktionen der Menschen an Bord angestachelt werden. Sich ruhig zu verhalten, Sichtkontakt zu vermeiden und aktives Segeln einzustellen, könnte ihr Interesse verringern und dazu beitragen, die Interaktion schneller zu beenden.

Auf jeden Fall rufen wir dringend dazu auf, den Orcas nicht mit Gewalt oder gar Waffen gegenüberzutreten. Gewalttätige Reaktionen sind einerseits grausam und ethisch bedenklich, sowie potentiell eine Gefahr für den Fortbestand dieser vom Aussterben bedrohten Orcapopulation. Andererseits können sie das Gegenteil des gewünschten Effekts haben, indem sie das Interesse der Orcas an einer Fortsetzung der Interaktion steigern. Orcas sind nach europäischem Recht streng geschützt. [2]

Wenn Sie mit einer Yacht und einem anderen kleinen Schiff in den betroffenen Gebieten unterwegs sind, empfiehlt OceanCare, sich über die unten angeführten Webseiten auf dem Laufenden zu halten.

Appell zur Toleranz

Dieses Verhalten der Orcas ist unbestritten besorgniserregend und potentiell gefährlich, aber wir hoffen, dass alle, die Orcas begegnen, weiterhin mit Geduld und Toleranz reagieren. Diese Interaktionen können auch als Gelegenheit gesehen werden, mehr über diese faszinierenden Geschöpfe zu erfahren und hoffentlich Wege zu finden, sie besser zu schützen und mit ihnen in Harmonie zu leben und mit Respekt zu begegnen.

 

[1] Weiterführende Informationen über die Gefahren für Wale und Delfine in dieser Region finden Sie im OceanCare-Bericht „Under Pressure“.

[2] Alle in EU-Gewässern vorkommenden Wale und Delfine stehen in Anhang IV der FFH-Richtlinie, d.h. für sie gilt im gesamten Verbreitungsgebiet strenger Schutz und das Verbot, Tiere dieser Arten zu töten oder zu stören

Quellen für weiterführende Informationen

(OceanCare übernimmt keine Verantwortung für Ratschläge, die auf anderen Websites gegeben werden)

Cruising Association

GTOA

MITECO  (Ministerio para la Transición Ecológica y el Reto Demográfico) [zuständige Regierungsstelle in Spanien]

ICNF (Instituto da Conservação da Natureza e das Florestas) [zuständige Regierungsstelle in Portugal]

Projekt FriendShip: orcas

Neue wissenschaftliche Quellen

Esteban et al. (2022): Killer whales of the Strait of Gibraltar, an endangered subpopulation showing a disruptive behavior. Marine Mammal Science 38(4): 1699-1709.  https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/mms.12947

Why are killer whales attacking boats – questions and answers with Dr Luke Rendell: https://theconversation.com/why-are-killer-whales-attacking-boats-expert-qanda-206223