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Tiefsee: Artenreichtum unter Extrembedingungen

12. Mai 2022

Die Tiefsee ist für den Menschen schwer zugänglich und deshalb weitgehend unerforscht. Selbst über die Mondoberfläche wissen wir besser Bescheid als über das Leben in den dunklen Weiten des Ozeans. Bilder von Tiefseebewohnern lassen eine faszinierende Welt erahnen.

Lange stellte sich der Mensch die Tiefsee wegen des extremen Drucks, der Kälte und der vorherrschenden Dunkelheit als Einöde vor. Erst im 19. Jahrhundert hob man Bodenproben aus 4 000 Metern Tiefe und fand diese voller Organismen. Als Jacques Piccard 1960 im Marianengraben einen Plattfisch fand, war klar: Die Tiefsee lebt.

Sie ist die grösste Biosphäre unseres Planeten und scheint unermesslich viele Arten zu beherbergen, von denen uns die wenigsten bekannt sind. Mit zunehmender Meerestiefe nimmt zwar die Zahl der Tiere ab, die Artenvielfalt ist aber gross. Bisher wurden rund 27 000 Arten identifiziert, es dürften aber Tausende, wenn nicht gar Millionen mehr sein. Zu den Wesen, die sich diese Tiefen zur Heimat gemacht haben gehören Fische, Korallen, Quallen, Oktopusse, Würmer, Schwämme, Muscheln und Krebse.

Wie sich die Kreaturen der Finsternis an die extremen Lebensbedingungen der Tiefsee angepasst haben, mutet oft spektakulär an. Tiefseebewohner können mikroskopisch klein, aber auch sehr gross sein. Der Riesenkalmar etwa wird bis zu 13 Meter lang. Es ist Forschern gelungen, faszinierende Videoaufnahmen dieser Giganten zu machen. Tote Riesenkalmare fand man in Fischernetzen, an Stränden und in den Mägen von Pottwalen.

Wassersäule: Gegendruck erzeugen

Bereits zehn Meter unter der Meeresoberfläche verdoppelt sich der Druck. In 10 000 Metern Tiefe lastet bis zu einer Tonne Gewicht auf jedem Quadratzentimeter eines Lebewesens.

Damit die Tiere nicht zerquetscht werden, haben ihre Körper eine gelartige Konsistenz angenommen. Sie enthalten nur wenige Knochen und Muskeln und praktisch keine Hohlräume mehr. Für Körperstabilität sorgt ein erhöhter Innendruck. Holt man solche Tiere an die Wasseroberfläche, zerfliessen sie oder können platzen.

Finsternis: Licht ins Dunkel bringen

Ab 300 Metern Tiefe nimmt das Licht unter Wasser rapide ab. Ab 1 000 Metern ist es im Meer stockdunkel. Manche Tiefseebewohner tragen ihr eigenes Licht mit sich, das in Leuchtorganen von Bakterien erzeugt wird. So locken sie Beutetiere und Partner an und kommunizieren mit Artgenossen. Der Anglerfisch etwa trägt wie an einer Angel einen Leuchtpunkt vor sich her. Nähert sich seine Beute, braucht er nur noch zuzuschnappen.

Manche Tiere behelfen sich in der Finsternis auch mit besonders grossen Augen, um das schwache Restlicht zu nutzen. Der Glaskopffisch hat gar einen transparenten Kopf, in dem sich seine Augen befinden.

Nahrung: Viel Gutes kommt von oben

Ohne Licht und Photosynthese wachsen weder Algen noch Phytoplankton. Entsprechend mager ist in der Tiefsee das Nahrungsangebot. Manche Tiere sind auf organisches Material angewiesen, dass aus höheren Wasserschichten zu ihnen herabrieselt: sogenannter Meeresschnee aus abgestorbenen Pflanzen und toten Tieren. Die meisten Nährstoffe werden aber bereits von höher lebenden Meeresbewohnern verspeist. Ganz unten kommt nur noch wenig davon an. Ein seltener Festschmaus sind grosse Tiere wie Wale, die nach ihrem Tod auf den Grund hinab sinken.

Es gibt aber auch Tiefseebewohner – etwa Bakterien und Einzeller –, die sich hydrothermale Quellen als Nahrungsgründe erschlossen haben: Sie leben von den Chemikalien, die an heissen Unterwasserschloten aus dem Inneren der Erde in die Tiefsee strömen.

Einige Arten begeben sich zur Nahrungssuche zudem auf vertikale Wanderschaft: Nachts tauchen sie zum Fressen in nahrungsreiche Wasserschichten auf, bei Tagesanbruch ziehen sie sich wieder in die Tiefe zurück, wo sie vor Räubern sicherer sind. So wandert etwa der Laternenfisch während drei Stunden aus 1700 Metern Tiefe bis 100 Meter unter den Meeresspiegel. Diese Art der Nahrungssuche hat den Vorteil, dass mit den Tieren auch wieder Nährstoffe in die Tiefe gelangen.

Wer auf Nahrung am Meeresgrund angewiesen ist, muss ein Maximum an Energie sparen und lange Fastenperioden ertragen können. Viele dieser Tiere lauern deshalb bewegungslos ihrer Beute auf, statt sie aktiv zu jagen. Und damit kein Leckerbissen entgeht, sind die Mäuler mancher Arten mit riesigen Zähnen ausgestattet. Was ihnen, wie im Falle des Vipernfisches, ein gruseliges Aussehen verschafft.

Partnersuche: Ewige Liebe

Eine Lotterie ist in der dünn besiedelten Tiefe die Partnersuche. Es braucht Glück und gute Chemorezeptoren, um in der unermesslichen Weite aufeinander zu treffen. Das Männchen des Tiefsee-Anglerfischs hat darauf eine radikale Antwort gefunden: Findet er ein Weibchen, beisst er sich an ihr fest und verwächst mit ihr.